Tagungsbericht Salzburg 2015
InterSEKTionalität
Tagungsreview zur Salzburger Tagung am 2.-3. Oktober 2015
von Bärbel Röben
Ein Jubiläum und viele Fragen bei der Fachgruppentagung in Salzburg
Können gesellschaftskritische Genderforscher_innen im klimatisierten Hörsaal unbefangen diskutieren, wenn zur gleichen Zeit Geflüchtete in der stickigen Tiefgarage am Salzburger Hauptbahnhof hausen? Ja, denn die jüngste Fachgruppen-Tagung hatte die aktuelle Situation im Blick, als sie ihren Fokus auf die neoliberal geprägte, zunehmend prekarisierte Gesellschaft richtete und danach fragte, wie sie mittels der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Geschlechterforschung kritisch analysiert werden kann.
Die Tagung – so resümierte Jutta Röser (Münster) in ihrem abschließenden Kommentar – habe eine zweifache Rahmung: Zum einen die aktuelle Lage der Geflüchteten und zum anderen stehe der Tagungstitel für das Werk von Elisabeth Lissi Klaus, die ihren 60. Geburtstag feierte. Das Spektrum der Vorträge reichte entsprechend „von großen Fragen der Wissenschaft auf theoretisch-elaborierter Ebene“ bis zu „interessanten speziellen Analysen“.
Gesellschaftskritik und „gutes Leben“
Die Berliner Soziologin Sabine Hark, eine der profiliertesten Geschlechterforscherinnen, thematisierte in ihrer Keynote Kritik als „Mittel der Reflexion“. Diese diene nicht nur dazu, bestehende Herrschaftsverhältnisse aufzudecken, sondern auch um „die Welt zu denken, wie sie sein könnte“. Damit meint Hark die Suche nach dem „guten Leben“ – jenseits neoliberaler, patriarchaler Machtstrukturen. Es bedürfe der „praktischen Reorganisation von Sozialität“, konkret z.B. der Unterstützung von Geflüchteten.
Weltweit würden die Menschen „zur Marktlichkeit“ erzogen und die „Quellen der Solidarität systematisch ausgehöhlt“. Durch die Individualisierung seit den 1980er, 1990er Jahren habe sich eine Selbstverantwortlichkeit „unter unverfügbaren Bedingungen“ und damit eine zunehmende Prekarisierung der Bevölkerung entwickelt. Das Allgemeinwohl werde dem Handeln der Individuen entzogen. „Besonders junge, weiße, gebildete, heterosexuelle Frauen“ würden durch ihre Eingliederung in Erwerbsleben und Konsumkultur zu „privilegierten Subjekten des Umbaus“. Der Neoliberalismus zerstöre die „Demokratie von innen heraus“.
Das „gute Leben“ sei nicht individuell, sondern nur in Abhängigkeit von anderen möglich, denn das „Gefährdetsein“ ist allgemeine Lebensbedingung. Soziale Bewegungen, die für die Absicherung des Prekärseins kämpfen, können diese Interdependenzen nicht überwinden, sondern nur lebbar machen. Feminismus müsse dabei die „Perspektive einer Aufhebung dialektischer Widersprüche zurückweisen“. Andere Seinsweisen müssten denkbar und lebbar werden. Hark schloss mit dem Appell, der Feminismus solle „Bündnisse mit anderen herrschaftskritischen Bewegungen eingehen“!
Um eine Zukunftsvision vom „guten Leben“ geht es auch im „Konvivialistischen Manifest“ von 2014, in dem zahlreiche – vor allem französische – Intellektuelle an Gesellschaftskritik und dem Entwurf einer „neuen Kunst des Zusammenlebens“ mitgewirkt haben. Ziel ist eine weltweit demokratische, humanistische Gesellschaft, in der es darum geht, „einander zu widersprechen, ohne einander niederzumetzeln“.
Tanja Thomas (Tübingen) fragte in ihrem Vortrag danach, wie das Manifest es mit feministischen Erkenntnissen hält – und entdeckte allerhand Kritikwürdiges. So reproduzierten die Konvivialist_innen Ausschlüsse, indem sie die Perspektive der Mehrheitsgesellschaft und des Staates einnehmen. „Frauen sind in der Sprache des Manifests bestenfalls mitgemeint“, so Thomas. Auch das unpolitische Fürsorgeideal, das an eine „privatisierte Privatmoral“ appelliere, widerspreche der feministischen Care-Ethik, die Fürsorgeversagen in politischen Strukturen und nicht beim Individuum verortet. Tanja Thomas fragte, ob das Manifest trotz aller Einwände noch mögliche Referenzpunkte für wissenschaftspolitische Überlegungen bietet. Nein, meinte Sabine Hark in der anschließenden Diskussion: „Es stellt die wichtigen Fragen nicht!“
Wissensproduktion als politische Arbeit
Wie können feministische Intellektuelle sich nun politisch engagieren? Franziska Rauchut (Tübingen) lotete in ihrem Vortrag am Beispiel der Cultural, Gender und Queer Studies aus, wie Wissenschaft sich in Politik einmischen kann. Es gelte zunächst Alltagserfahrungen anzuerkennen, theoretisch zuzuspitzen und dann rückzubinden an die Politik. Alle drei wissenschaftlichen Ansätze könnten sich dabei gegenseitig unterstützen. Während die Cultural und Gender Studies inzwischen im bundesdeutschen Wissenschaftsbetrieb verankert sind, haben es die „Queer Studies schwer, weil sie nicht institutionalisiert sind, das System hinterfragen und nicht mit ihm arbeiten.“ Rauchut meint, die drei Studies sollten nicht zusammengeführt werden, sondern nur von Fall zu Fall kooperieren. Intellektuelle müssten hier als „vielstimmiges Netzwerk“ agieren.
Mit dem „neuen“ Intellektuellentypus befasste sich die Sozialwissenschaftlerin Katherine Sarikakis, seit 2011 Professorin in Wien, in ihrer Keynote zum „organic intellectuell“. Traditionell seien Intellektuelle eine „eigene Klasse“. Ihre Distanz zum sozialen Kontext ist aufgehoben, wenn sie auf „ihr eigenes Leben schauen“ und zu „organischen Intellektuellen“ werden, die nach Antonio Gramsci Gefühle und Erfahrungen der breiten Masse artikulieren. Das Recht auf Kommunikation, zu sprechen und gehört werden, müsse gerade für Marginalisierte gesichert werden. Deshalb gelte es, die Besitz- und Machtverhältnisse im Kommunikationssektor zu hinterfragen, Institutionen zu kritisieren und feministisches Denken hineinzubringen, so Sarikakis. Sie plädiert für eine Politik „of care and trust“ und „Ethik muss unser Kompass sein, auf andere zu hören. Wir sind Privilegierte.“ Ihr Appell: „Raus aus der Komfortzone, hinein ins Alltagsleben von Frauen, hingehen zu den Marginalisierten!“
Möglichkeiten der von Sarikakis geforderten Institutionenkritik lotete Elisabeth Klaus in einem Diskussionsinput zu „Verqueerungen künstlerischer und wissenschaftlicher Produktion“ aus (die in zwei inspirierenden und aktivierenden Workshops intensiviert wurden). Ausgehend von den künstlerischen Interventionen Andrea Frasers forderte sie – illustriert durch drei eindrückliche Beispiele –, die „Absurditäten des neoliberalen Wissenschaftsbetriebs“ zu entlarven, der auf Drittelmitteleinwerbung und viele Veröffentlichungen setzt, deren Qualität wiederum anhand von Impactfaktoren und Zitationsindizes beurteilt wird. In der anschließenden Diskussion stieß nicht nur das substanzarme Exellenzverständnis auf Kritik, sondern auch die prekären Arbeitsverhältnisse, insbesondere im Mittelbau der Universitäten. Veränderungen seien eine Machtfrage und deshalb nur durch stärkere gewerkschaftliche Organisation bzw. eine Allianz von Beschäftigten auf allen Hierarchiestufen mit den Studierenden möglich.
Öffentlichkeit und gesellschaftliche Teilhabe
Nach der eher soziologisch geprägten Makroperspektive auf Wissenschaft im Allgemeinen und feministische Forschung im Besonderen wurden einzelne Aspekte und von Elisabeth Klaus (mit-)geprägte Ansätze zu staatsbürgerlicher Teilhabe („cultural citizenship“), Öffentlichkeit (Drei-Ebenen-Konzept) und Intersektionalität thematisiert – zumeist anhand von Fallanalysen.
Wie Frauen im Kaiserreich über „cultural citizenship“ in Form von sozialer Arbeit ihre politische Partizipation erreichten, erläuterten Susanne Kinnebrock und Désirée Radmer (Augsburg) in ihrem Vortrag. Durch Thematisierung in Fachmedien gelang es Frauen-Vereinen, Wohlfahrt als staatliche Aufgabe zu verankern, deren Mitarbeitende bezahlt wurden. Während private Fürsorge im Kaiserreich eine öffentliche Angelegenheit wurde, galt sie in der Demokratie nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr als „Arbeit“ und wurde weitgehend zurückgedrängt ins Private, so Kinnebrock zu ersten Ergebnissen ihres Forschungsprojekts “Mütter für den Staat“, das den Zeitraum zwischen 1870 und 1960 untersucht.
Auf der Ebene „einfacher Öffentlichkeiten“ im Internet untersuchten Ricarda Drüeke und Corinna Peil (Salzburg) Diskurse um Gleichbehandlung. Mit „Genderterror“ kommentieren Elternvertreter_innen z.B. die Einführung geschlechtergerechter Sprache in österreichische Schulbücher, fordern eine „Rückkehr zur sprachlichen Normalität“ oder pöbeln: „Warum muss sich eine Mehrheit von einer Minderheit auf den Kopf kacken lassen?“ Solche antifeministischen Parolen, die in Österreich mit der FPÖ und in Deutschland mit der AFD eine politische Basis erhalten, schaffen es mittlerweile auch in „komplexe Öffentlichkeiten“, wie jüngst die deutsche Hart-aber-Fair-Sendung „Nieder mit den Ampelmännchen – Deutschland im Gleichheitswahn“ zeigte.
Intersektionalität: Sexismus – Rassismus – Klassismus
Um die vielfältige Anwendung kommunikationswissenschaftlicher Geschlechterforschung ging es in fünf Vorträgen, in denen mediale Wirklichkeitskonstruktionen entlang unterschiedlicher Grenzziehungen problematisiert wurden. Da Wissen immer standortgebunden ist, sollte der Blick vom Anderen auf das Eigene gerichtet werden, erläuterte Katharina Fritsche (Lüneburg) und verdeutlichte, dass die männliche Perspektive in journalistischen Texten ebenso eine weiße ist. Nach einer Analyse der Diskurse um diskriminierungsfreie Kinderbücher und die Abschaffung des N-Wortes Anfang 2013 resümiert sie: Weiße Positionen dominieren in der Berichterstattung, werden aber auch herausgefordert. Der Blick auf Positionen innerhalb einer Kategorie – sei es Geschlecht oder Ethnizität – lohnt für die Analyse von Machtverhältnissen.
Um Macht ging es auch in dem Vortrag von Martina Thiele (Salzburg) und Claudia Riesmeyer (München). Sie beschäftigten sich mit dem Image(wandel) von US-Präsidentschaftsbewerberin Hillary Clinton mittels einer Diskursanalyse von Artikeln, die im April 2015 nach Bekanntgabe ihrer Kandidatur erschienen. Als zentraler Diskursstrang erweist sich das Verhältnis von Geschlecht und politischer Macht. In dem Zusammenhang werden auch andere soziale Kategorien diskursiv aufgerufen: Alter („freundliche Großmutter“, „Schafft sie das?“), Klasse, Ethnie („hat keinen Zugang zu Durchschnittsamerikanern“) und Sexualität. Diese sozialen Konstruktionen werden in Wahlkampf und Berichterstattung gegeneinander ausgespielt, so dass letztlich ein Imagewandel gefordert und gleichzeitig kritisiert wird.
Die Verschränkungen der Ungleichheitskategorien Geschlecht, Kultur, Körper und Klasse arbeitete Julia Goldmann (Salzburg) in einer intersektionalen Filmanalyse von „The Wrestler“ und „Black Swan“ heraus. Sie stellt fest, dass die Zuschreibung zur „populären Arbeiterklasse“ bzw. zur „gehobenen Klasse“ allgegenwärtig ist. Die Filmanalyse zeige, so ihr Resümee, wie sehr sich Individuen sozialen Strukturen unterordnen (müssen) und fordert deshalb, Klasse als Analysekriterium stärker zu fokussieren.
Das machte Irmtraud Voglmayr (Wien) in ihrem Vortrag zu Klassismus in der Populärkultur. Sie nimmt das Reality-Format „Wir leben im Gemeindebau“ unter die Lupe, das zwischen 2011 und 2013 im österreichischen Privatsender ATV lief, gute Quoten hatte, aber abgesetzt werden musste, weil die Bewohner_innen der Sozialwohnungen protestierten.
Voglmayr zeigt zunächst, wie in den medialen Repäsentationen der Strukturzusammenhang zwischen Klassen- und Geschlechterungleichheit aufscheint. Protagonist Maxl mit rassistischen und sexistischen Sprüchen in seiner verwahrlosten Wohnung bedient das Bild des „vulgären Proleten im Gemeindebau“ und verweist auf seine Stellung im sozialen Raum. Die Prekarisierung der „einst klassenbewussten Proletarier“ wird auch in einer Befragung der Gemeindebau-Bewohner_innen deutlich, die z.B. sagen, der Sender „will den Gemeindebau gezielt schlecht machen“. Für diejenigen, die in der Sendung mitmachen, ist es ein „Kampf um Anerkennung“. Hier zeigt sich die Wirksamkeit solch „harmloser“ Formate, die soziale Ungleichheit symbolisch reproduzieren.
Prekarität und Geflüchtete
Die „Normalisierung von Prekarisierung“ demonstrierte Brigitte Hipfl (Klagenfurt) am Beispiel der Tatortfolge „Angezählt“. Es geht um Frauen aus Osteuropa, die zur Prostitution gezwungen, das Lebensgefühl von Marginalisierten in der neoliberalen Gesellschaft verkörpern: unsicher, verzweifelt, ausgeliefert (Gefühlstruktur von Prekarität). Die ermittelnde Kommissarin Bibi Fellner reagiert darauf mit einem Wutausbruch, der „politisch ermächtigend sein kann“, sagt Hipfl, denn er symbolisiert ein Aufbäumen gegen die Machtstrukturen, die diese Unsicherheiten verkleinern oder verstärken können (gouvernementale Prekarisierung).
Mit der prekären Lage der Geflüchteten in Salzburg beschäftigten die Tagungsteilnehmenden sich auf drei Stellwänden mit Fragen nach Problemen der Berichterstattung, Möglichkeiten solidarischen Handelns und feministischen Forderungen. Das gab es viele weitere Inspirationen für eine kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung als kritische Gesellschaftsanalyse.
Bärbel Röben