Mehr Streitkultur!
Am vergangenen Dienstag hat Stephan Ruß-Mohl die interne Debatte in eine breite Öffentlichkeit getragen, indem er dazu einen Artikel im Tagesspiegel veröffentlicht hat. Als Fachgesellschaft befänden wir uns „in einer handfesten Auseinandersetzung um Gendersternchen und das Binnen-I“, schreibt er.
Das sehen wir anders. Es geht in der Debatte nicht um den Genderstern, es geht um akademisch redliches Argumentieren, um Diskursethik im wissenschaftlichen Feld und das Einnehmen verantwortungsbewusster Sprecher*innenpositionen in der öffentlichen Kommunikation.
Stephan Ruß-Mohl stellt die fachinterne Debatte hingegen in ganz anderen Kontext: Er interpretiert sie als Indiz einer angeblich allgemeinen Einschränkung der Meinungsfreiheit an Universitäten und verweist in diesem Zusammenhang auf das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“. Ein Mitglied dieses Netzwerkes, der Historiker Michael Sommer, hat kürzlich in der Süddeutschen Zeitung als Beispiel für die geforderte wissenschaftliche Freiheit angeführt, er wolle auch jemanden wie Björn Höcke in universitäre Veranstaltungen einladen können.
Ein Frame, der in vielen Beiträgen dieser Debatte um Meinungsfreiheit implizit enthalten ist, ist die Selbstviktimisierung. Die Redner*innen stilisieren sich lautstark als Opfer einer angeblichen Meinungsdiktatur. Es handelt sich wohlgemerkt um etablierte Wissenschaftler*innen, die doch ganz offensichtlich alle Möglichkeiten haben, sich in journalistischen Medien, Fachzeitschriften, Seminaren, Vorlesungen und Vorträgen öffentlich zu äußern. Dieses Paradox zieht sich als roter Faden auch durch die DGPuK-Debatte. Widerspruch wird in ein Redeverbot umgedeutet und Kritik am Überschreiten wissenschaftlicher und ethischer Regelwerke in eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit.
Noch einmal: Der Grund, auf den Beitrag Stöbers nicht in der Publizistik zu antworten, war die Tatsache, dass in dem Text die Vertreter*innen einer nichtdiskriminierenden Sprache in die Nähe nationalsozialistischer und totalitärer Ideologien gerückt werden. Diese infame Unterstellung wird durch durchschaubare rhetorische Mittel eingeleitet, ohne dass sich der Autor überhaupt die Mühe einer Begründung macht. Das ist einer fachwissenschaftlichen und fachpolitischen Auseinandersetzung nicht angemessen, auf diese Ebene wollten und wollen wir uns nicht begeben. (Hinzu kommt, dass die fachlichen Argumente hinter vielem zurückbleiben, was bereits veröffentlich wurde.)
Stattdessen haben wir in Form eines offenen Briefes interveniert. Dieser soll zur Diskussion darüber anregen, was redliches Argumentieren bedeuten und welchen Regeln der Diskursethik ein kontrovers geführter Meinungsaustausch im Fach folgen sollte. Was also fördert den deliberativen Diskurs, was verhindert ihn? Ein wichtiges dafür verwendetes Kriterium im politischen Streit ist das der „civility“ (für einen Überblick: Hall Jamieson et. al. 2018). „This criterion aims at the degree to which public discourse is conducted in a polite and respectful manner. […] Such civil exchanges may lead to a change in preferences based on ‘good reasons’ or at least the mutual acknowledgment of legitimate opposition.” (Rinke et al. 2013: 7). Massaro und Stryker (2012) haben dargelegt, warum „civility“ als Norm keine Verletzung des 1st Amendments darstellt und empirisch gezeigt, dass es in der Bevölkerung eine weitgehende Übereinstimmung darüber gibt, was „uncivil speech“ bedeutet. Stöbers Beitrag fällt ohne Zweifel in diese Kategorie des „uncivil speech“. Die Rahmung der anderen Seite als Vertrer*innen des Totalitären ist nicht höflich, nicht respektvoll und insgesamt ungeeignet, gegnerische Argumente als legitim anzuerkennen. „Uncivility“ ist keine Basis, um eine so informierte wie spannende kontroverse Fachdebatte zu führen. Diese Meinung teilen offensichtlich die vielen DGPuK-Mitglieder, die den offenen Brief unterschrieben haben.
Friederike Herrmann, Elisabeth Klaus und Tanja Thomas
Zitierte Literatur:
Jamieson, Kathleen Hall, Volinsky, Allyson, Weitz, Ilana and Kate Kenski (2017, updated 2018): The Political Uses and Abuses of Civility and Incivility. In: The Oxford Handbook of Political Communication Edited by Kate Kenski and Kathleen Hall Jamieson. DOI: 10.1093/oxfordhb/9780199793471.013.79_update_001
Massaro, Toni Marie and Stryker, Robin (2012): Freedom of Speech, Liberal Democracy, and Emerging Evidence on Civility and Effective Democratic Engagement (April 18, 2012). 54 Arizona Law Review 375 (2012), Arizona Legal Studies Discussion Paper No. 12-12, Available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=2042171
Rinke, Eike Mark, Wessler, Hartmut and Weinmann, Charlotte Lb & Carina (2013): Deliberative Qualities of Generic News Frames: Assessing the Democratic Value of Strategic Game and Contestation Framing in Election Campaign Coverage, Political Communication, 30:3, 474-494, DOI: 10.1080/10584609.2012.737432
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„ES GEHT IN DER DEBATTE NICHT
„Es geht in der Debatte nicht um den Genderstern, es geht um akademisch redliches Argumentieren, um Diskursethik im wissenschaftlichen Feld“ wie Friederike Herrmann, Elisabeth Klaus und Tanja Thomas hier im Forum schreiben, und wie sie finde ich, dass es damit keineswegs und noch lange nicht um die „Kommunikationsfreiheit“ oder die „Wissenschaftsfreiheit“ oder andere mit rhetorischem Großkaliber zu bewahrende Freiheiten geht, wie von verschiedener Seite dagegengehalten wird. Es geht für mich eigentlich um etwas vergleichsweise Banales.
ICH MÖCHTE DIE BEIDEN HIER
Ich möchte die beiden hier stehenden Beiträge den Kritikern des offenen Briefs doch sehr zur genaueren Lektüre empfehlen: Friederike Herrmann, Elisabeth Klaus und Tanja Thomas: „Es geht in der Debatte nicht um den Genderstern, es geht um akademisch redliches Argumentieren, um Diskursethik im wissenschaftlichen Feld“. Und Christian Schwarzenegger weist darauf hin, „dass es damit keineswegs und noch lange nicht um die ‚Kommunikationsfreiheit‘ oder die ‚Wissenschaftsfreiheit‘ oder andere mit rhetorischem Großkaliber zu bewahrende Freiheiten geht“. Für ihn genügt es nicht „auch in einer Rubrik ohne Peer Review (…) einfach „Meinung“ zu rufen, um den Prozess wissenschaftlicher Qualitätssicherung in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift auszusetzen“. Das sind die Themen, die über 400 Unterzeichner*innen des offenen Briefs bewegen.