Wahrgenommene Realität

  Hans-Bernd Brosius
  (Ludwig-Maximilians-Universität München)

 

 

 

Von 1980 bis 1995 war ich Mitglied des Akademischen Mittelbaus in zwei Fächern an zwei Universitäten. In dieser Zeit hatte ich halbe und ganze Stellen, war zwischenzeitlich arbeitslos, erhielt ein Stipendium der DFG und war sowohl auf Plan- als auch auf Drittmittelstellen beschäftigt. Vom ersten Augenblick an war mein Ziel eine wissenschaftliche Karriere, es gab Zeiten des Zweifels und der Zuversicht, und letztlich hätte es sicher auch anders kommen können. Die Aussichten waren zu der Zeit auch alles andere als rosig. Es gab kaum Professorenstellen, die Berufungsverfahren waren stark politisiert; als Mitglied der sog. Mainzer Schule habe ich das am eigenen Leib auch erfahren. 


Seitdem ist die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft ständig gewachsen, getrieben von den anhaltend hohen Studierendenzahlen und dem permanenten Medienwandel. Sprunghaft gestiegene Chancen des Mittelbaus gab es vor allem auch durch (1) die Wiedervereinigung und den dadurch möglich gewordenen Neuaufbau der Professorenschaft an ostdeutschen Universitäten in den Jahren 1990 bis 2000 und (2) durch die Exzellenzinitiative, welche eine stärkere Profilierung der Universitäten begünstigte. Viele Unis haben das genutzt, um das attraktive Feld der Medien neu oder stärker zu besetzen. Dies fand im Wesentlichen zwischen 2005 und 2015 statt. 


Mehr Professorinnen und Professoren bedingen eine etwas zeitverzögerte Vergrößerung des Mittelbaus, verstärkt auch durch die zunehmende Drittmittelorientierung des Wissenschaftssystems. Das starke in Wellen sich vollziehende Wachstum des Faches hat die wahrgenommenen Chancen der einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber nicht vergrößert; auf mehr Professorenstellen bewerben sich mehr Mittelbauer. Das Verhältnis besetzter und freier Stellen schwankt erheblich. Eine Professur ist oft für die nächsten 20 bis 30 Jahre besetzt, die Fluktuation von Mittelbaustellen ist deutlich größer.
Dies führt zu einer paradoxen Situation: Der Mittelbau wird an den meisten Standorten heute deutlich mehr gefördert. Stipendien, Förderprogramme, Mentoringprogramme und dergleichen sind zahlreicher geworden.


Der Mittelbau hat mehr Möglichkeiten, eigenständig zu forschen und sich zu qualifizieren (z.B. durch Beantragung einer eigenen Stelle bei der DFG, durch eine verbesserte sächliche Ausstattung der Institute und Lehrstühle).


Der Mittelbau profitiert erheblich durch Möglichkeiten der Teilnahme an (internationalen) Tagungen (etwa durch den DAAD) und Fortbildungen (etwa durch die EU). Der (wahrgenommene) soziale Abstand zwischen Profs und Mittelbau ist deutlich kleiner geworden. Dennoch führt dies nicht zu einer größeren Zufriedenheit oder wahrgenommenen Sicherheit der einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf befristeten Stellen. Denn die Verbesserungen kommen allen zugute und verschärfen in gewisser Weise sogar den Wettbewerb. Dabei gilt, dass die Zahl der verfügbaren Professuren in absehbarer Zeit endlich bleiben wird. Die Hochschulpolitik kann und wird keine Zusagen machen, die jeder oder jedem eine feste Dauerstelle im Hochschulsystem verheißen. In einer solchen Situation ist es unsere Aufgabe, (1) möglichst attraktive Stellen mit Freiraum und Vollzeit zu schaffen, (2) prekäre Arbeitsverhältnisse abzubauen, (3) einen Übergang aus der Universität in die Wirtschaft mit geeigneten Programmen zu begleiten und (4) den Mittelbau so gut es geht zu fördern, ihm Mut zuzusprechen, ihm Vertrauen und letztlich realistische Perspektiven aufzuzeigen.