Verschwörungstheorie als Wissenschaftskritik
Jens Soentgen (Universität Augsburg)
Verschwörungstheorie: das Wort stammt aus der Philosophie, geprägt wurde es vom Wissenschafts- und Sozialphilosophen Karl Popper. Leider aber hat sich die Wissenschaftsphilosophie anschließend kaum mehr mit dem Phänomen befasst. In der Corona-Krise nun tauchen auf breiter Front Verschwörungstheorien auf, auch solche, die sich um Wissenschaftler drehen, und werden von Personen aller Bildungsniveaus gestreut.
Auch im Kontext des Klimathemas sind Verschwörungstheorien gestreut worden, insbesondere in den USA, jedoch auch in Ost- und Mitteleuropa. Diese Verschwörungstheorien waren eine naheliegende Ergänzung der Klimaskepsis. Denn wenn jemand die wissenschaftliche Lehrmeinung bezweifelt, dass der Klimawandel 1) überwiegend durch die gesellschaftliche Emission von Kohlendioxid und weitere Treibhausgase verursacht ist; 2) bereits jetzt messbar ist, 3) sich künftig, wenn keine wirksamen Gegenmaßnahmen ergriffen werden, weiter entfalten wird und 4) überwiegend negative Auswirkungen hat, dann war eine Erklärung erforderlich, weshalb denn dann die ganz überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler genau dies behauptete.
Wie kommt es, dass diese Klimaforscher etwas lehren, das nach Auffassung der Klimaskeptiker in wesentlichen Teilen falsch ist? Die Antwort liefert die Verschwörungstheorie.
In einer gemeinsam mit Helena Bilandzic durchgeführten gründlichen Untersuchung der klimaskeptischen Literatur konnten wir zeigen, dass sehr viele Klimaskeptiker zugleich Verschwörungstheoretiker sind. Sie glauben z.B., dass unter dem Vorwand des Klimaschutzes eine ganz andere Agenda durchgesetzt werden soll, etwa ein radikaler gesellschaftlicher Umbau. „Green is the new red“ ist ein in der US-amerikanischen klimaskeptischen Literatur bedeutsames Schlagwort hierfür. Und sie wollen eine Wirklichkeit hinter den Dingen herausfinden, zu der nur Indizien und indirekte Schlussfolgerungen führen, der Begriff impliziert also eine Wertung.
Entscheidend ist, dass Verschwörungstheorien im Kern als Erzählungen funktionieren. Der Theologe Thomas Hausmanninger hat dies in einer sehr guten, leider kaum rezipierten Studie schon vor mehreren Jahren zeigen können. Bezieht man seine Ergebnisse auf die Gegenwart, dann bedeutet dies: Eine sehr komplexe wissenschaftliche Lageanalyse aus mithilfe von Hochleistungsrechnern berechneten Szenarien wird ersetzt durch eine soziale Erklärung. Ein Verschwörungstheoretiker spricht nicht von abstrakten und unsichtbaren, oft schwer begreifbaren Objekten wie Reproduktionszahl, Kohlendioxid, Klima oder globaler Durchschnittstemperatur, sondern führt als Erklärung eine kleine, heimlich operierende Gruppe von Menschen ein, die Macht oder Geld will. Mit dieser Erzählung schafft er ein Feindbild, bietet emotionale Entlastung und ermöglicht allen, die ihm folgen können, eine Art von sozialem ‚Aufstieg‘ oder Rollenwechsel. Man ist Befunden der Wissenschaft und einer wissenschaftsgeleiteten Politik nicht mehr ausgeliefert, sondern wird vom Ermahnten zum Mahner, vom Adressaten wohlmeinender wissenschaftlicher Aufklärungsbemühungen zum ‚Aufklärer‘.
Zugleich wird auch jemand präsentiert, der an der ganzen ambivalenten und stressreichen Situation schuld ist. Für Menschen, die nun einmal soziale, manche sagen sogar ultrasoziale Wesen sind, die immer und überall nach Akteuren suchen, bietet dies nur allzuleicht ein Aha-Moment.
Die Wissenschaft, die sich, meist mit gutem Grund, in die Rolle des Anklägers begibt, des Anklägers etwa ökologisch problematischer Formen der Energieerzeugung, findet sich nunmehr selbst auf der Anklagebank. Dies ist historisch keineswegs eine einmalige Situation. Die modernen Formen der Verschwörungstheorien, die sich um geheime, hochgebildete und emotionslos, mit Pokerface handelnde Akteure drehen, werden erstmals in der Epoche der Aufklärung fassbar. Gleichwohl ist nach Jahrzehnten eines dominant wissenschaftsfreundlichen Klimas, jedenfalls in Mitteleuropa, nun erstmals ein Bruch unverkennbar.
Die Reaktion von Seiten der Wissenschaft ist meist aggressiv. Es macht aber wenig Sinn, nun umgekehrt Verschwörungstheorien zu bemühen, also z.B. zu verallgemeinern, dass Wissenschaftskritiker von der Kohle- und Erdölindustrie unterstützt würden, oder jedem Kritiker der Maßnahmen gegen die Coronapandemie ein Aluhütchen aufzusetzen und ihn als Verschwörungstheoretiker abzuqualifizieren. Auch der Hinweise, dass die Wissenschaftskritiker ja keine hinreichenden Fachkenntnisse hätten ist wenig hilfreich.
Zielführend könnte jedoch sein, sich die Art der vorgetragenen Kritik genauer anzuschauen.
In der Wissenschaftskritik, gerade auch in der Kritik von Nichtfachleuten, steckt oft ein zutreffender Kern, die Diskussion über Transdiziplinarität hat immer wieder darauf hingewiesen. Wenn Kritik der Motor der Wissenschaft ist, dann muss dies nicht nur die Kritik aus dem Fachkollegium sein. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass Nichtfachleute Verfahren zur Messung des atmosphärischen Kohlendioxids verbessern; Methoden werden immer eine innerwissenschaftliche Domäne bleiben. Aber bezogen zum Beispiel auf die grundlegenden Begriffe kann nichtfachliche Kritik sehr wohl auf verengte Auffassungen und auf unbefragte Prioritäten hinweisen. Ein erheblicher Teil der Kritik an der Klimapolitik ist z.B. darauf zurückzuführen, dass der Umweltbegriff seit etwa dreißig Jahren systematisch mit Klima gleichgesetzt wird, bzw. dass das Klima zum wichtigsten Umweltthema avancierte, wie man etwa an den Jahresberichten des Umweltbundesamtes nachweisen kann. Wenn nun ein Nichtwissenschaftler sagt, dass die Umwandlung eines freifließenden Flusses in ein CO2-neutrales Wasserkraftwerk Umweltzerstörung und nicht Umweltschutz sei, können wir daraus, wenn wir diesen Kritiker nicht gleich als Kohlelobbyisten abtun, immerhin lernen, dass die stillschweigende Gleichsetzung von Umwelt mit Klima eine problematische Verengung darstellt. Die Wissenschaft sollte lernen, in einen symmetrischen und für beide Seiten produktiven Dialog mit ihren dialogfähigen und dialogbereiten Kritikern einzutreten.
Klimakrise und Coronakrise machen deutlich wie nie zuvor, dass wir nicht nur die eigene Spezialdisziplin zum Nabel der Welt machen sollten, sondern durch kontinuierliche interdisziplinäre Kooperationen den berühmten Blick über den Tellerrand kultivieren müssen. Uns ist die Fähigkeit abhanden gekommen, aufs Ganze zu blicken. Dies liegt besonders an dem drastisch gewachsenen Graben zwischen den Sozial- und Geisteswissenschaften auf der einen und den Naturwissenschaften auf der anderen Seite. Die Fähigkeit zur disziplinären Mehrsprachigkeit müsste viel mehr gepflegt werden: Stattdessen setzt aber z.B. die DFG trotz mancher interdisziplinärer Kosmetik fast ausschließlich auf disziplinäre Spezialisierung, selbst in eigentlich integrativen Fächern wie der Geographie. Wir müssen aber nicht nur immer präziser analysieren, sondern auch in der Lage sein, unterschiedliche Aspekte in eine wissenschaftlich fundierte Gesamtsicht zu integrieren. Erst wo dies gelingt, kann ein sinnvoller Dialog begonnen werden.