Wissenschaftsfreiheit als bedrohte Freiheit?

 

 

 

Hans-Heinrich Trute, Universität Hamburg

Die Universität Hamburg hat sich im Frühjahr 2022 einen Kodex Wissenschaftsfreiheit gegeben (https://www.uni-hamburg.de/uhh/profil/leitbild/kodex-wissenschaftsfreiheit/kodex-wissenschaftsfreiheit.pdf). Anlass dafür waren die massiven Störungen der Vorlesungen von Prof. Bernd Lucke, dem ehemaligen AfD-Vorsitzenden, anlässlich seiner Rückkehr an die Universität gewesen, aber auch Vorkommnisse weniger prominenter Art. Erarbeitet wurde der Kodex durch eine 2019 gebildete, multidisziplinär und mit Vertreter:innen von allen Statusgruppen besetzte Kommission, die nach intensiver Diskussion einschlägiger Fälle – nicht nur in Hamburg – neun Thesen zur Wissenschaftsfreiheit und ihre jeweilige Begründung verabschiedet hat. Diese sind im akademischen Senat anschließend diskutiert und angenommen worden.

In der Sache eröffnet die Freiheitsgarantie den Wissenschaftler:innen die Autonomie, ihre ­Themen und Methoden zu wählen und Ergebnisse frei kommunizieren zu können. Dieser Freiraum ist auch und gerade deshalb gewähr­leistet, um andere und neue Wege gehen zu können. Diese Autonomie befreit die Wissen­schaft aber nicht von der Rechtfertigung der eigenen Position und der Notwendigkeit der Reflexion des eigenen Handelns, legt dies jedoch wiederum in die ­Verantwortung der einzelnen Wissenschaftler:innen. Wie jede Freiheit, kann auch die Wissenschaftsfreiheit durch die grundrechtlich geschützten Rechte anderer begrenzt werden. Zweifellos liegt in der Freiheit auch eine Herausforderung für die gesellschaftliche Diskussion, die typischerweise anderen Logiken folgt. Das beinhaltet für beide Seiten Herausforderungen, ist aber kein Grund für Wissenschaftler:innen, sich nicht in öffentliche Debatten einzumischen. Öffentliche Kritik entspricht nicht immer den Anforderungen und Motiven, die im wissenschaftlichen Diskus gelten und muss es auch nicht. Zu einer ungerechtfertigten Grenzüberschreitung kommt es hingegen da, wo das eigentliche Ziel der Kritik die Beeinträchtigung der persönlichen Integrität oder anderer Rechtsgüter ist, eine Entwicklung, die bezüglich der Maßnahmen in der Pandemie aber auch in Klimadebatten zu beobachten ist. Eine Beeinträchtigung kann auch darin liegen, dass der Diskursraum durch ein Klima moralischer oder gesellschaftspolitischer Empörung mehr oder weniger bewusst eingeengt wird. Wissenschaftsfreiheit gewährt also den Wissenschaftler:innen einen weiten Freiraum, der freilich eingebettet ist und mit anderen Freiheiten ggf. abzustimmen ist. Dieser Freiraum ist, dies zeigen Diskussionen auch mit Wissenschaftler:innen aus anderen Ländern, übrigens auch in Europa, keineswegs selbstverständlich und daher immer wieder neu zu behaupten.

Der Hamburger Kodex hat zur Überraschung der Kommission ein enormes öffentliches Echo hervor­gerufen, gemessen an der Zahl der medialen Berichte, Diskussionen und Einladungen zu diesem Thema. Das lässt darauf schließen, dass der Kodex einen Nerv in Wissenschaft und Öffentlichkeit getroffen hat. Angesichts der Tatsache, dass eine gelegentlich behauptete Bedrohung der Wissenschaft jenseits von Einzelfällen kaum belegt wird (und eher ein Import von Phänomenen und Diskursstrategien aus den USA vermutet werden kann), ist das sicherlich erklärungsbedürftig. In den unruhigen 68er Jahren wurden viele Auseinandersetzungen gerichtlich ausgetragen; dieser Trend ist heute nicht zu beobachten. Jenseits der Instrumentalisierung von Einzelfällen für bestimmte politische und kulturelle Anliegen könnte vielleicht so etwas wie eine erhöhte, gelegentlich kontextfreie Sensibilität bestehen, die auf der einen Seite Cancel Culture, Genderwahnsinn und Wokeness beklagt, auf der anderen Seite von Zumutungen der Auseinandersetzung entweder möglichst befreit sein will oder identitätspolitische Positionen durchsetzen möchte, Positionen, die sich möglicherweise gegenseitig verstärken. Auch die Bereitschaft, alle Misshelligkeiten sogleich als individuellen Freiheitsverlust zu verstehen, könnte dazu beigetragen haben. Das bedürfte freilich genauerer Analyse.

Der Kodex sollte indes verdeutlichen, den Freiraum der Wissenschaft nicht für selbstverständlich zu halten, sondern diesen auch aktiv zu nutzen und zu verteidigen, wo immer er tatsächlich beeinträchtigt zu werden droht. Nur durch die selbstbewusste Inanspruchnahme von Freiheiten sind diese auch wirklich. Dies setzt eben auch voraus, nicht stets auf die Verantwortung von staatlichen Instanzen und Leitungsorganen zu verweisen, so wichtig diese im Einzelfall sein mag. So gesehen hat der Kodex Impulse für eine öffentliche Debatte gegeben, die dem Selbst­verständnis der Wissenschaft ebenso dient wie der Verdeutlichung des Wertes der Wissenschaft für eine offene Gesellschaft. Das ist wohl mehr als alle daran Beteiligten erwartet haben.