Verschwörungstheorien – (k)ein Thema für die Kommunikationswissenschaft?
Thorsten Quandt (Westfälische Wilhelms-Universität Münster)
Spätestens seit der Corona-Krise kennen wir wohl alle ein paar sogenannte „Verschwörungstheorien“, die den Weg aus dubiosen Ecken des Internets in die öffentliche Diskussion gefunden haben. Das Virus stamme eigentlich aus einem Biowaffenlabor. Bill Gates habe Corona entwickeln lassen, um Impfungen der Bevölkerungen zu erzwingen. Die Bundesregierung sei Mitwisser eines langfristigen Plans, Corona in der Welt zu streuen – vermutlich mit dem Ziel, die Macht der Eliten zu festigen oder bestimmte Bevölkerungsgruppen zu vernichten. Und Angela Merkel sei entführt und irgendwo nach Südamerika verbracht worden. Die aktuelle Merkel: nur eine Doppelgängerin.
Von vielen anfangs belächelt, werden solche Ideen inzwischen auf sogenannten „Hygienedemos“ oder in „Alternativmedien“ breit gestreut – und sie finden nicht nur bei Esoteriker*innen und Verwirrten Anklang, sondern inzwischen bei vielen, die Zweifel an der aktuellen Corona-Politik haben. Von dieser in mehrfacher Hinsicht ‚virulenten‘ Debatte leicht genervte Kolleg*innen werden sich vermutlich fragen: Soll sich dann auch noch die Kommunikationswissenschaft (und der Aviso!) mit so etwas auseinandersetzen, oder läuft man hier einem aktuellen Modethema hinterher, das wieder verschwinden wird und eigentlich nichts mit dem Fach zu tun hat?
Tatsächlich hat sich unsere Disziplin in der Vergangenheit nur stiefmütterlich um Verschwörungstheorien gekümmert – wie übrigens die Wissenschaft insgesamt. Dies mag einerseits daran liegen, dass man vieles sehr schnell als witzigen, jedoch irrelevanten Unsinn abtun konnte, andererseits an der eher irreführenden Bezeichnung als „Theorie“. Letzteres hat jüngst zu geradezu reflexhaften Abwehrreaktionen bei Akademiker*innen und dem Versuch geführt, andere Begriffe wie „Verschwörungsmythen“ oder „Verschwörungserzählungen“ in der Debatte zu etablieren, um den Unterschied zur Vorgehensweise im System Wissenschaft deutlich zu machen. Das hilft zwar bei der Differenzierung – und vielleicht auch ein klein wenig der Selbstvergewisserung der Wissenschaft –, doch wird man dem Phänomen und seiner Bedeutung in der Gesellschaft allein mit Definitionslyrik oder dem eiligen Verschieben ins Reich der Blöden nicht gerecht.
Denn unter den Verschwörungstheorien gibt es hartnäckige „Klassiker“, die immer wieder aktualisiert werden: Das Schicksal des vermuteten Austauschs teilt Angela Merkel beispielsweise mit Sir Paul McCartney, der angeblich im Jahr 1966 durch einen Doppelgänger ersetzt wurde. Auch diverse andere Personen der Zeitgeschichte wurden angeblich ausgetauscht, geklont oder warten nur im Exil auf ihre Rückkehr: Dass Adolf Hitler und führende Nazis sich mit Reichsflugscheiben auf die Rückseite des Mondes zurückgezogen haben, um bei richtiger Gelegenheit wieder zu kommen, ist inzwischen Teil der Popkultur und wird sogar in Computerspielen oder Kinofilmen thematisiert.
Jedoch hört hier das Amüsante im Populären auch schnell wieder auf: Denn die Nazis selbst sind nicht nur Gegenstand von Verschwörungstheorien, sie haben sie selbst für politische Zwecke instrumentalisiert, mit bekannten Folgen. Dolchstoßlegende und jüdische Weltverschwörung waren wirkmächtige Bausteine der Ideologie, die letztlich in die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts geführt hat. Nicht alle Verschwörungstheorien sind also harmlose und schnelllebige Spinnerei, sondern sie folgen mitunter einem gefährlichen politischen Kalkül. Diese Historie ließe sich übrigens von der Antike bis ins Heute nachverfolgen.
Verschwörungstheorien sind damit ganz grundlegend Medien- und Kommunikationsthemen: Mit ihnen wird Öffentlichkeit gesucht, und sie sind implizit oder explizit Teil weltanschaulicher und politischer Auseinandersetzungen in der Gesellschaft. Es geht um Sinnsuche, Angst vor fremder Kontrolle sowie fehlender Selbstbestimmung in einer komplexen Welt – letztlich also um Fragen der Macht. Selbst die wirrsten Verschwörungstheorien stehen für den Versuch, alternative Erklärungen jenseits eines als dominant angesehenen ‚Mainstreams‘ zu finden, zu dem in der Sicht ihrer Anhänger neben Politik und etablierter Wissenschaft auch die Medien gehören. Insofern ist es kein Zufall, dass Medien selbst Gegenstand von Verschwörungstheorien sind: Der Begriff der „Systemmedien“, der inzwischen Journalist*innen von wütenden Demonstrierenden entgegen geschmettert wird, basiert auf eben jener Idee einer sinistren Verschwörung der Machteliten, zu denen etablierte Medien en bloc gehören.
Damit kommt der Kommunikationswissenschaft eine zentrale Rolle bei der Erforschung von Verschwörungstheorien zu, denn sie kann wie kein anderes Fach eben diese Aspekte empirisch wie theoretisch adressieren. Insofern sollte sich unsere Disziplin nicht nur mit dem Thema auseinandersetzen – sie muss es sogar!