Publizieren bewegt

 

 

 

Marlis Prinzing, Hochschule Macromedia Köln

Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden kann, zählt“, fand Albert Einstein, und wenn man sich mit dem Thema dieses Debattenschwerpunkts, den Publikationskulturen, befasst, dann könnte man sich fast vorstellen, der Forscher habe die Metriken und Indizes gemeint. Oder doch eher den Wissenstransfer, die Third Mission, den gesellschaftlichen Impact, der ja gerade ihm ebenfalls wichtig war? Sicher scheint: Das Publikationswesen ist kein Thema, das sich in Schwarz oder Weiß sortieren lässt. Sicher ist auch: Menschen haben sich immer gerne miteinander verglichen, ihre Leistung vermessen, nicht nur beim Sport, es gibt zahllose Rankings in allen Bereichen. Und sicher ist: Das Thema gibt zu reden.

Erzählt man sich – etwa am Rande von Tagungen – von seinen Publikationserfahrungen, dann geht es noch um anderes als um Impactfaktoren. Zum Beispiel darum, wie mühsam es ist, wenn eigentlich alles fertig da liegt – die Autor:innen haben geliefert, die Feedbackschleifen sind konstruktiv bewältigt, das Sammelband-Manuskript ist eingeschickt – und es passiert: nichts. Monatelang. Man kann nichts tun als an die Verlagsmitarbeiter:innen appellieren, die vermutlich vergleichbaren Einfluss darauf habe wie Zugbegleiter:innen auf die Verspätungen der Bahn, sowie die Autor:innen vertrösten: „das Buch wird kommen“ – und rätseln: Hätte man die teurere Publikationsvariante buchen und weiter nach den dann nötigen Geldgebern suchen müssen? Oder einen Verlag wählen, der garantiert rasch publiziert, wenngleich dessen Marktpräsenz etwas schmäler ist?

Zeit ist in mehrerlei Hinsicht ein Thema – bekanntlich auch bezogen auf Qualitätssicherung (Begutachtung passiert nicht über Nacht) und das „Markieren“ von Forschungsfragen (wer ist gerade an was dran?). Aber auch die schiere Menge ist eine (ebenfalls bekannte) Herausforderung, die digitalen und analogen Berge von Journals, White Papers, Büchern etc. sind immens, kaum zu überblicken und schwer zu kuratieren. Abgesehen davon: Wer soll, kann, will eigentlich das alles lesen – abgesehen von den üblich Verdächtigen wie Autor:innen, Reviewende, Rezensent:innen und Studierende, für die ein Text zur Pflichtliteratur erklärt wurde?

Aufmerksamkeit ist ein weiterer Faktor: Bei der Methodentagung im September 2023 in Potsdam gab es gleich zwei Buch-Kuchen – beide aus Schokolade mit Marzipan-Zuckerguß überzogen, auf den die Covers kopiert waren: Jakob Jünger und Chantal Gärtner schnitten ihr Lehrbuch „Computational Methods für die Sozial- und Geisteswissenschaften“ an, Mario Haim sein Textbook „Computational Communication Science“. Ein Marketing-Gag des Springer-Verlags, für den es offenbar den Deal gibt, dass der Anschnitt und damit die Buchtaufe fotografiert wird. Manches wird einfach beibehalten, weil keiner etwas dagegen hat. Etwa das „Neu erschienen“ im Aviso, das Stefan Weinacht dankenswerter Weise in guter Tradition und Zuverlässigkeit seit vielen Ausgaben betreut.

Publizieren bewegt: Nur, indem wir öffentlich machen, was und wie wir geforscht haben, tragen wir zum Erkenntnisgewinn bei. Wissenschaftliches Publizieren gehört zu den Kernaufgaben wissenschaftlichen Arbeitens. Publizieren bewegt aber auch wegen der Herausforderungen – und da gilt es viel zu bewegen: Die zu bohrenden Bretter sind dick, „nicht publizieren“ geht sowieso nicht.

Der Wettbewerbsrat der Europäischen Union hat im Mai 2023 eine Ratsschlussfolgerung zum wissenschaftlichen Publizieren angenommen. Kern ist ein möglichst uneingeschränkter Zugang zu Forschungsergebnissen, insbesondere wenn deren Forschung mit öffentlichen Mitteln unterstützt wurde. Das Publikationswesen sei unter dem Anspruch „High-quality, transparent, open, trustworthy and equitable scholarly publishing“ weiterzuentwickeln. Kommission und Mitgliedsstaaten der EU sollten entsprechende Regeln entwerfen. Das aktuell vorherrschende System, bei dem private Unternehmen das geistige Eigentum der Beiträge letztlich kontrollieren und für den Zugriff auf die Veröffentlichung von Beiträgen kaum noch zumutbare Preise aufrufen, müsse durch ein gemeinnütziges Publikationsmodell ersetzt werden. Und man müsse Gutachter:innen für ihre bedeutsame Arbeit für die Qualitätskontrolle der wissenschaftlichen Artikel etwa im Rahmen ihrer Leistungsbeurteilungen belohnen, auch um sie zu incentivieren, dies weiterhin zu tun.

Die European University Association (EUA), weitere europäische Wissenschaftsorganisationen sowie auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützen die Position des EU-Beschlusses. Die DFG plädiert zudem dafür, die Qualitätsbewertung breiter als üblich zu fassen und Praktiken wie „post publication peer review“ und „open peer review“ einzuschließen. Sie hat in ihrem 2022 vorgestellten Positionspapier „Wissenschaftliches Publizieren als Grundlage und Gestaltungsfeld der Wissenschaftsbewertung“ bereits eine ganze Reihe von Handlungsempfehlungen vorgelegt. Wegleitend sind der Schutz der Wissenschaftsfreiheit sowie der wissenschaftlichen Integrität, die Qualitätsorientierung und die Zugänglichkeit von Forschungsbefunden. Das DFG-Papier richtet sich an Wissenschaft und öffentliche Geldgeber, will dazu beitragen, Fehlentwicklungen zu korrigieren sowie zentralen Herausforderungen begegnen, denen das Publikationswesen ausgesetzt sei. Genannt werden die Wahrnehmbarkeit publizierter Wissenschaft sowie ungünstige Marktstrukturen und Geschäftspraktiken, eine zeitgemäße Qualitätssicherung und -bewertung sowie eine angemessene Verknüpfung von Wissenschaftsbewertung und -finanzierung.

Diese Aviso-Debatte befasst sich mit solchen und anderen Herausforderungen, kann sie aber weder vollständig noch umfassend behandeln, sondern möchte weitere Debatten anstoßen rund um die Frage „Wie soll man heute publizieren?“, die sich immer wieder neu stellt. Gegenwärtig etwa durch Künstliche Intelligenz-Instrumente und Algorithmen, die das wissenschaftliche Publikationswesen verändern werden. Dazu bezieht Dirk Siepmann in einem Standpunkt-Interview Position. Julia Metag skizziert in ihrem Statement zur Dynamisierung der Publikationskultur(en) hin zu mehr internationalen, englischsprachigen Fachzeitschriften mit Peer-Review deren Sinnhaftigkeit und weitet die Perspektive auf unterschiedliche Wege zu Impact. Tobias Dienlin zeigt, wie unter Open Access-Bedingungen publiziert werden kann und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Armin Scholl fokussiert den Trend weg von Monografien hin zu Aufsätzen, und verlangt das „Sowohl Als auch“: Manche theoretischen Ausführungen kämen in Aufsätzen zu kurz und bedürfen der Langform, weshalb Monografien auch künftig einen Platz brauchen. Lars Rinsdorf plädiert für einen Austausch im Wissenschaftsbetrieb, um möglichst wirkungsvolle Metriken zu entwickeln. Jörg Matthes bricht eine Lanze für mehr Publikationen in Forscher:innenteams und mehr internationale Vernetzung über Fachzeitschriften als Weg, um in der Summe wesentlichen wissenschaftlichen Fortschritt zu erzielen.

DFG-Papier 2022: https://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/grundlagen_dfg_foerderung/publikationswesen/positionspapier_publikationswesen_zusammenfassung.pdf
EU-Position 2023: https://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2023/05/23/council-calls-for-transparent-equitable-and-open-access-to-scholarly-publications/