Reflexion über CCS im deutschsprachigen Raum
Julia Niemann-Lenz, Universität Hamburg
Merja Mahrt, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
(Foto: Alexander Vejnovic)
Computational Communication Science (CCS) ist gekommen, um zu bleiben – auch im deutschsprachigen Raum. Nach Tagungen wie der CCSConf 2018 in Hannover und Sonderheften in Zeitschriften wurden inzwischen an größeren, aber auch kleineren Instituten einschlägige Professuren geschaffen. Im Bereich Computational Methods gibt es institutionalisierte Arbeitsgruppen, Kolleginnen und Kollegen engagieren sich in der gleichnamigen „division“ der ICA sowie der Arbeitsgemeinschaft „Computational Social Science in der Lehre“ innerhalb der DGPuK. Auch die Gründung von einschlägigen Zeitschriften deutet auf die langfristige Etablierung des Feldes hin.
In der Reflexion über den Stellenwert von CCS gibt es dabei unterschiedliche Ansichten: Für die Sozialwissenschaften insgesamt sind prominent mehrere Beiträge erschienen, die ein neues Paradigma mit dem „computational turn“ gekommen sehen. In der Publizistik-Debatte um die „Zukunft der Kommunikationswissenschaft“ vor etwa fünf Jahren spielte dieser mögliche paradigmatische Wandel dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Mehrere der Beiträge beschäftigen sich mit computergestützten Verfahren als jeweils einem Aspekt, der für die zukünftige Entwicklung des Fachs relevant sei. Bei der Bewertung des damit verbundenen Wandels gehen diese und auch weitere Texte zu der damaligen Debatte aber deutlich auseinander. Wir selbst sehen durch die hier skizzierten Entwicklungen Anlass, diese Fäden aufzunehmen und über CCS innerhalb der Kommunikationswissenschaft im deutschsprachigen Raum zu reflektieren.
Erster Schritt dahin ist eine Abgrenzung des Begriffs. Computational Communication Science drückt zunächst Kontinuität im Forschungsgegenstand sowie die Anbindung an kommunikationswissenschaftliche Theorie aus (van Atteveldt & Peng, 2018). Die wesentlichen Neuerungen sind demgegenüber methodischer Natur: Computational verweist auf die Fusion mit der Informatik, deren Sicht auf Daten und für die Kommunikationswissenschaft neue Herangehensweisen. Die Daten der CCS werden oft nicht speziell für den Forschungsprozess generiert, sondern entstehen als Nebenprodukt von digitalen Kommunikationsprozessen. Sie können einerseits umfangreich und komplex, andererseits hinsichtlich Repräsentativität, Konstruktvalidität und Reliabilität suboptimal sein. Die Datenauswertung erfolgt bei CCS i. d. R. mittels automatisierter Verfahren, wie Netzwerkanalyse, Text- und Datamining, Natural Language Processing und Deep Learning. Zudem werden Computermodellierung und -simulation eingesetzt.
Als zweiten Schritt adressieren wir in dieser aviso-Debatte zentrale Fragen, die sich aus den skizzierten Merkmalen von CCS ergeben. Als Sprecherinnen und Sprecher der DGPuK-Fachgruppen Methoden bzw. Digitale Kommunikation thematisieren Marko Bachl, Emese Domahidi und Ulrike Klinger, ob und wie sich unsere Disziplin durch CCS verändert. Sie fragen auch danach, welche Entwicklungen wir im Fach benötigen. Der Transformationsprozess hin zu einer CCS wird in besonderem Maße von Early-Career-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftlern getragen und betrifft diese verstärkt. Ihre Perspektive auf Lehre und Weiterbildungsbedarf greifen Jule Scheper und Ahrabhi Kathirgamalingam auf. Mit der Integration von informatischen Methoden in das Fach durch interdisziplinäre Forschung befassen sich Katharina Kleinen-von Königslöw und Chris Biemann. Sie gehen Rolle und Beitrag der Kommunikationswissenschaft nach und skizzieren die speziellen Hürden, die bei interdisziplinärer CCS-Forschung bestehen. Im schließenden Beitrag sprechen Daniela Schlütz und Wiebke Möhring forschungsethische Herausforderungen für CCS an.
Mit den fünf in diesem Heft vorliegenden Texten ist das Thema CCS natürlich nicht erschöpft. Die hier im Zentrum stehenden Entwicklungen des deutschsprachigen Raums stehen nicht allein da, sondern sind und bleiben mit internationalen Veränderungen verflochten. Zudem können wir uns fragen, was wir als Expertinnen und Experten dazu beitragen können, um das Verständnis für computerbasierte Datensammlung und Auswertung, ihre Ergebnisse und deren Bedeutung innerhalb der Bevölkerung insgesamt zu verbessern und so Digitalkompetenz zu erweitern. Vielfach zeigt sich in öffentlichen Debatten über Algorithmen oder künstliche Intelligenz nämlich, dass computerbasierte Verfahren als „black box“ wahrgenommen werden, denen z. T. fast schon magische Fähigkeiten zugeschrieben werden, während ihre Grenzen und auch mögliche Fehlleistungen (bis hin zu z. B. algorithmischer Diskriminierung) nur unzureichend reflektiert werden. Wir hoffen, dass die aviso-Debatte im dritten Schritt den weiteren Austausch anregt.
Literatur
van Atteveldt, W., & Peng, T. Q. (2018). When communication meets computation: Opportunities, challenges, and pitfalls in computational communication science. Communication Methods and Measures, 12(2-3), 81-92.