Wie Wissenschaft und Journalismus voneinander profitieren können (2)
Sören Müller-Hansen (Süddeutsche Zeitung)
Journalismus und Wissenschaft sind häufig in sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs. Während ein großer Teil der Berichterstattung in Medien an aktuellen Ereignissen aufgehängt ist, dauert es in der Wissenschaft häufig lange, bis ein Forschungsergebnis aufgeschrieben, peer reviewed und veröffentlicht ist. In aktuellen Debatten fehlt dadurch häufig wissenschaftliche Evidenz, und wenn sie vorliegt, dominieren auf den Nachrichtenseiten längst wieder andere Themen. Dabei würden beiden Seiten davon profitieren, wenn Wissenschaft schneller verfügbar wäre: Der Journalismus durch mehr Evidenz in der Berichterstattung und die Wissenschaft durch mehr Reichweite.
Die Coronapandemie ist ein Beispiel, wo das teilweise schon gut gelungen ist. Die Pandemie hatte eine derart große gesellschaftliche Relevanz und Dauer, dass Studien und Daten sehr viel schneller veröffentlicht wurden. Aus meiner journalistischen Perspektive wurde die Berichterstattung vor allem dann besonders gut, wenn beide Seiten vertrauensvoll miteinander arbeiten konnten, ein direkter Austausch stattfand und Informationen schon vor der Veröffentlichung geteilt wurden.
Die Pandemie ist zum Glück vorbei, doch das Prinzip lässt sich auf aktuelle Themen übertragen. Beispiel Wahlen: In der Süddeutschen Zeitung wollten wir darüber berichten, wie sich Wahlabsichten verändern, warum häufig von einem Rechtsruck geredet wurde und wie neue Parteien zu den etablierten passen. Im Zuge der Recherche sprachen wir mit einigen Politikwissenschaftlern und setzten schließlich gemeinsam mit Christian Stecker (TU Darmstadt), Jan Philipp Thomeczek (Universität Potsdam) und Constantin Wurthmann (Universität Erlangen-Nürnberg) eine wissenschaftliche Expertenbefragung auf, um einen veralteten Datensatz fortzuschreiben. Mit den Ergebnissen konnten wir eine hochaktuelle Debatte durch evidenzbasierte Analysen zu Parteipositionen und Koalitionsmöglichkeiten erweitern. Solche Projekte benötigen eine rare Ressource auf beiden Seiten: Zeit. Deshalb müssen wir Journalist: innen überzeugend darstellen, warum es sich lohnt, mit uns zusammenzuarbeiten. Denn wir sind auch auf einen Vertrauensvorschuss seitens der Wissenschaftler:innen angewiesen. In einer solchen Kooperation geben sie ein Stück weit die Kontrolle darüber ab, wie über ihre Forschungsergebnisse berichtet wird. So gut eine Zusammenarbeit auch ist, die Unabhängigkeit im Journalismus muss trotzdem gewahrt bleiben.
Damit Wissenschaft und Journalismus künftig häufiger zusammenfinden, lohnt es sich, auf vorhersehbare, wiederkehrende oder über einen längeren Zeitraum relevante Themen zu schauen. Als Journalist würde ich mich freuen, wenn mehr Mails von Wissenschaftler:innen zu ihrer aktuellen Forschung in mein Postfach flattern würden als Pressemitteilungen über bereits publizierte Ergebnisse.