Den Auftrag digital weiterdenken

Von Christoph Neuberger, Freie Universität Berlin und Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft

 

 

 

In den letzten Monaten ist der Eindruck ­entstanden, dass es noch nie so schlecht um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bestellt gewesen ist. Heftige Kritik ist auf die ­Anstalten eingeprasselt: Die Milliarden an Rundfunk­beiträgen würden nicht so eingesetzt, wie es der Auftrag verlangt. Vor allem der Rückzug aus jenen ­Programmbereichen stand in der Kritik, der seinen Kern bilden soll: Politik, Ausland, Kultur und Bildung. Stattdessen würden zu viel seichte Unterhaltung und Sport gesendet. Wer die öffentliche Wahrnehmung des öffentlich-recht­lichen Rundfunks schon länger beobachtet, weiß, dass solche Kritik eher der Normalfall als die Ausnahme ist und eingespielten Regeln folgt. Sie sagt oft mehr über die Eigeninteressen der Opponenten als über den Zustand von ARD und ZDF.

Es wäre zudem falsch, in dieser Kritik eine Dauerkrise der Legitimation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu sehen. Vielmehr ist sie Teil seines Wesens: Als der Gesellschaft verpflichteter Rundfunk muss er sich der öffentlichen Kritik stellen, die dort erhobenen Ansprüche registrieren, Anregungen aufgreifen und sich durch Leistungsnachweise legitimieren. Dieser Qualitätsdiskurs ist für öffentlich-rechtliche Medien ein wichtiges Steuerungs­instrument. Dabei sind nie ganz auflösbare Spannungs­verhältnisse auszutarieren: ­zwischen dem ­allgemeinen Publikums­geschmack einerseits, den Interessen von Minderheiten und ­Zielgruppen andererseits, zwischen dem Gebot von Vielfalt und Ausgewogenheit („Medium“) einerseits, der eigenen Position zu gesellschaftlichen Fragen („Faktor“) andererseits.

Der Druck auf die Öffentlich-Rechtlichen hat gleichwohl zugenommen. Durch die digitale Konvergenz steht den Anstalten nicht mehr nur der private Rundfunk als Konkurrent gegenüber, sondern auch die Presse, die zumindest in Teilen zu Recht in Anspruch nimmt, ebenfalls für Informationsqualität zu stehen. Netflix und andere Videoplattformen liefern Unterhaltungsqualität. 

Für eine Schärfung des öffentlich-rechtlichen Auftrags ist es also höchste Zeit. Die Rundfunkkommission der Länder arbeitet an einem Reformvorschlag, doch die Politik muss sich zurückhalten, wie das Bundesverfassungs­gericht in seinem neuen Urteil betont hat: Es hat nicht nur die Blockade Sachsen-Anhalts bei der Erhöhung des Rundfunkbeitrags für unzulässig erklärt, weil sie medienpolitisch motiviert war, sondern auch erklärt, dass der Gesetzgeber den Auftrag „nur in abstrakter Weise festlegen“ darf. Der „Genauigkeit“ seien „Grenzen gesetzt“, weil es den Rundfunkanstalten überlassen bleiben muss, in diesem weiten Rahmen den Auftrag zu konkretisieren. 

Hier haben die öffentlich-rechtlichen Anstalten Nachholbedarf, auch wenn ihr Qualitätsmanagement in den letzten Jahren einige ­Fortschritte gemacht hat. Und hier kann sich die Kommunikationswissenschaft einschalten. Für ein fundiertes Verständnis des Auftrags müssen die Werte der liberalen Demokratie maßgeblich sein: ­Freiheit, Gleichheit, Sicherheit, Integration, Vielfalt, Ver­hinderung von Meinungsmacht, Kritik und ­Kontrolle, Diskurs- und Informationsqualität. „Konkretisieren“ bedeutet: Wie müssen sie in der digitalen Öffentlichkeit verwirklicht ­werden? Wo gibt es Hindernisse und noch nicht aus­geschöpfte Potenziale? 

Beim Übergang vom Gatekeeper- zum Netzwerk-Paradigma ändern sich die ­erforderlichen Vermittlungsleistungen. „Vermitteln“ bedeutet nicht mehr nur die Produktion und Distribution eigener Programme. Der Auftrag erstreckt sich nun auch auf fremdpubliziertes Material. Das Publikum ist mit einer Fülle an Angeboten unterschiedlicher Qualität konfrontiert. Kuratieren unterscheidet sich vom klassischen Gatekeeping darin, dass Wegweiser (Empfehlungen) und Warnschilder (Fact-Checking) aufgestellt werden. Auch die Organisation und Moderation öffentlicher Diskurse gewinnt an Bedeutung. Es geht darum, zur Teilnahme zu motivieren und Interaktionen zwischen den Diskutierenden so zu lenken, dass sie deliberativen Ansprüchen genügen. Außerdem soll die Medienkompetenz des Publikums gefördert werden. Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk wird eine Leitbild- und Innovationsfunktion zugeschrieben: Er soll ­Standards für Qualität setzen und anderen Anbietern als Vorbild dienen. Schließlich soll er den Qualitätsdiskurs selbst fördern, auch unter Beteiligung des Publikums. Initiativen wie der ARD-Zukunftsdialog oder #meinfernsehen2021 des Grimme-­Instituts und Christiane Eilders sind dafür wegweisend. Um den Auftrag umzu­setzen, muss mit neuen Strukturen experimentiert ­werden. Dies könnte die größte Herausforderung für die öffentlich-rechtlichen Anstalten sein.